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Die Spirale
Neugier ist der Beginn der Spirale
Es ist ein verlockender Tunnel, eine Höhle, ein weit aufgerissener Mund. Eine warme, umhüllende Dunkelheit, die ein heiliges inneres Licht verspricht. Die Menscheit ist noch ein Kind, jung auf dieser Erde, mit frischem Blick und naivem Herzen, begierig zu erkunden. Wir sind Motten im Flug zur blauen Flamme, die von ihr angezogen werden. Wir stolzieren, wo wir gehen sollten und ragen auf, wo wir kriechen sollten. Wer hat uns erlaubt, die Dunkelheit zu durchdringen? Immer weiter hinabzusteigen, eine nicht enden wollende Spirale glitschig von flüssigem Schatten, hinab, ein winziger Splitter aus Zeit und Materie, der in den Schlund eines Ungeheuers gleitet? Ich sehe das—wieder und wieder und wieder. Manchmal bin ich das Kind. Selig ahnungslos bis zum bitteren Ende. Und manchmal bin ich die Dunkelheit. Gierig, Wartend. Beobachte das stille Wasser von unten. Der lautlose Jäger, gedrängt zwischen unsichtbaren Körpern am Grund eines sonnenlosen Meeres. Ruhig. Und so, so weit entfernt. Wieder und wieder und wieder.
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Der Sog der Spirale
Die Spirale zieht nach innen Sie windet sich nach unten Eine unergründliche Struktur, jede Biegung verdrehter als die letzte Ein Korkenzieher, der sich langsam ins Fleisch dreht Eine Schlange, die die Welt verschlingt— und sich selbst, bis sie nicht mehr fressen kann Wieder und wieder und wieder. Bis die Welt vergisst, denn sie hinterlässt nichts als ihre verführerische Spur. Der Druck steigt, je tiefer ich steige. Eine Welt, die nicht mehr meine ist, ragt über mir, erstickt mich, drückt mich hinab. Ich drücke meine Hände gegen die Wände der Spirale, damit ich mich im Abstieg nicht verliere. Ihre Seiten sind feucht und glänzen. Sie windet sich mit jeder Drehung stärker, uneben, unregelmäßig, um sich selbst gewunden. Sie führt mich immer weiter hinab. Je tiefer ich tauche, desto mehr begreife ich ihren Rhythmus. Es ist fleischig, atmend, zitternd. In der Tiefe beginnt sie zu leben.
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Seite 2
Am Fuße der Spirale
Ich erwache am Grund der Spirale, im Kern der Erde. Um mich herum eine wogende Masse, ein Durcheinander von Gliedmaßen, ein Haufen Fleisch. Sie formt den Wirbel, der das Hier mit dem Davor verbindet. Die Masse starrt mich an. Ich starre zurück, innerlich zerrissen von den Gesichertn, zerbrochen, zersplittert, neu zusammengesetzt. Eine groteske Imitation des Lebens: Augen schmelzen in Wangen, Lippen verflüssigen sich, Köpfe spalten sich und blühen aus zu etwas Neuem. Eines wirkt fremd und doch vertraut. Ein flüchtiger Gedanke, ein Zeitausschnitt, ein gehauchtes Wort. Er ist einer und er ist viele. Er ist ein Reisender, wie ich. Er ist überall. Zu menschenähnlich, um aus dem Nebel geboren zu sein. Zu erstickt, zu glänzend, um noch ein Mensch zu sein— oder doch Mensch? Er ist wie Morgentau. Der Anburch des Tages. Der Beginn jeder Spirale, darauf wartend, gefunden zu werden.
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Seite 3
Wir Sind Eine Spirale
Die Gesichter verdrehen sich ineinander und atmen alle wie eins Einige tragen Narben, Wucherungen, Fieber Vernarrte Augen oder kreischende Stimmen doch sie waren alle er, und er war all diese. Und einen Moment lang dachte ich, ich würde zu ihm werden. Oder er zu mir. Um eine neue Spirale zu formen. Um unter der Wasseroberfläche auf der Lauer zu liegen, mit offenem Mund. Um vergessen zu verden und wieder aufzutauchen, um die Welt erneut zu verschlingen. Spiegelungen von Spiegelungen. Ein Kind, das einer Wolke auf der Oberfläche eines stillen Teichs folgt Verwechselt ein Bild mit dem nächsten, und dem nächsten, und dem nächsten Die Erinnerung an einen Geist, halb vergessen, doch immer heimsuchend ein Bruchteil dessen, was einst war, ein Schatten des Selbst–neu geformt, neu gemacht. Jedes Ziehen, jedes Drücken bringt ein leises Stöhnen hervor, eine schimmernde Träne, eine Perle aus Schweiß. Die Spirale quält sich, um mir als ganzes gegenüberzutreten. Die Spirale quält die Welt. Die Spirale ist das Gesicht der Körper auf dem Meeresgrund. die Spirale ist was darunter blüht. Die Spirale ist lebendig, ist eine Schlange, ist ein Strudel, ein Mund, ist die Neugier, die sich an uns nährt. Sie wartet auf uns, fesselt, kaut, verschlingt und gebiert uns neu. Die Spirale ist unser Ende, und unser neuer Anfang.
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